Mut zur Vielfalt – Ein Blick über den Tellerrand der Online-Klausuren

Mut zur Vielfalt – Ein Blick über den Tellerrand der Online-Klausuren

19.06.20

Grafik in Anlehnung an Digitales Prüfen und Bewerten im Hochschulbereich

Das Thema Online-Klausuren wird im Zuge des digitalen Sommersemesters in Zeiten von Corona intensiv diskutiert. Die Frage, wie Leistungen abgefragt und bewertet werden sollen, steht dabei im Vordergrund. Dr. Jannica Budde, Julius-David Friedrich und Christine Tovar plädieren in diesem Beitrag für mehr Mut bei der Entscheidung in Hinblick auf die Prüfungsformate.

Prüfungen während Corona müssen digital abgehalten werden – aber wie?

Prüfungen und Lernprozess

Im Zuge des digitalen Sommersemesters 2020 wird sehr häufig das Thema Online-Prüfungen diskutiert. Hierbei sind die Unsicherheiten groß, das Terrain teils unbekannt und die Herausforderungen vielschichtig. Die Debatte dreht sich häufig um Themen wie Online-Proctoring, Datenschutz und Schummelei. Diese einseitige Betrachtungsweise führt dazu, dass viele Möglichkeiten des Online-Prüfens aus dem Blick geraten und viel Energie darauf verwendet wird die hundertprozentig rechtssichere Lösung zu finden. Dabei lohnt sich eine intensivere und breitere Beschäftigung mit dem Thema. Denn auch andere Prüfungsformate bieten in der aktuellen Lage gute Lösungsansätze. In diesem Blogbeitrag möchten wir inspirieren, über andere Formate als das der Online-Klausur nachzudenken.

Grundsätzlich lassen sich Prüfungsformate nach unterschiedlichen Dimensionen wie der Phase im Lernprozess, dem Ziel der Prüfung oder der Notwendigkeit der Identitätskontrolle strukturieren. Die Phasen des Lernprozesses lassen sich grob aufteilen in die Phase zu Beginn des Lernens (“diagnostisch”) – Tests und Assessments können hier den weiteren Entscheidungs-, Einstufungs- und Lernprozess unterstützen –, die Phase im Verlauf des Lernprozesses mit einer Überprüfung der Lernfortschritte für Lehrende und Lernende (“formativ”) sowie die abschließende Ermittlung des Lernerfolgs („summativ“). In all diesen Phasen können digitale bzw. digital-unterstützte Prüfungsformate zum Einsatz kommen. Einen guten Überblick, welche Möglichkeiten des digitalen Prüfens es gibt, zeigen die sieben Szenarien in dem HFD-Arbeitspapier Digitales Prüfen und Bewerten im Hochschulbereich.

Grafik in Anlehnung an Digitales Prüfen und Bewerten im Hochschulbereich

 

Formative und summative Prüfungen

In diesem Blogbeitrag nehmen wir formative und summative Prüfungstypen in den Blick. Denn aktuell stellt sich an vielen Hochschulen die Frage: Wie können und sollen aktuell Prüfungen abgenommen werden, die beispielsweise vor Corona als Klausur vor Ort, als mündliche Prüfung oder kleine kursbegleitende Prüfungen geplant waren? Eine entscheidende Frage ist häufig der “Grad” der Prüfungen: Müssen diese benotet werden (eher summativ) oder nicht (eher formativ)? Handelt es sich um entscheidende Modul- oder Abschlussprüfungen (summativ) oder um kleinere, begleitende Leistungsnachweise, die nicht in die Note einfließen (formativ)? Gerade im formativen Bereich, etwa zur individuellen Lernstandskontrolle, bieten digitale Assessments und Tests in Lernmanagementsystemen gute, unproblematische Möglichkeiten und Raum für Innovationen. Schwieriger wird es bei summativen Prüfungen zur Bestimmung von Abschluss- und Modulnoten.

Das Prüfungsrecht unterscheidet darüber hinaus zwischen Hausarbeiten und Klausuren, wobei nur letztere beaufsichtigt werden müssen, um die Chancengleichheit für alle Prüflinge sicher zu stellen. An diesem Punkt wird bereits deutlich, dass alternative Prüfungsformate zur Klausur gewählt werden können, um die Problemlagen wie “digitale Aufsicht” zu lösen. Open-Book-Klausuren, wie an der Ruhr-Universität Bochum oder Take Home Exams, wie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz praktiziert, können solche alternativen Formen sein. Beide Formen fokussieren auf das kompetenzorientierte Prüfungen.

Natürlich bestimmen meist äußere Vorgaben, wie die der Prüfungs- oder Studienordnungen die Gestaltung von Prüfungen. Einige Hochschulen haben aufgrund der aktuellen Situation zeitlich begrenzte “Notverordnungen” beschlossen, um andere Prüfungsarten zu ermöglichen, wie die oben genannten Beispiele zeigen.

Prüfungen und Lerntaxonomie

Egal ob formativ oder summativ – das Prüfungsarrangement sollte im Sinne des Constructive Alignment immer auf das Lernziel, aber auch auf die angewandten Lehr-Lern-Methoden abgestimmt sein. Soll beispielsweise kompetenzbasiert geprüft werden, ist es sinnvoll entsprechende Aufgaben bereits im Laufe der Veranstaltung mit den Studierenden durchzugehen. Die Stufen der Taxonomie nach Bloom (vgl. Bloom et al. 1956) können eine gute Orientierung bei der Planung von (Online-)Prüfungen und vor allem auch den Prüfungsfragen bieten.

In seiner Taxonomie unterscheidet Bloom zwischen folgenden Stufen von Lernzielen:

Grafik zur Lernzieltaxonomie von der Universität Hohenheim.

Die sich aktuell häufenden Unsicherheiten von Lehrenden, dass Studierende in Online-Assessments schummeln, decken auf, dass (Online-)Prüfungen häufig auf Ebene der ersten beiden Stufen (Wissen und Verständnis) gedacht werden. Bei reinen Verständnisfragen oder dem Abfragen von Wissen ist natürlich die Wahrscheinlichkeit groß, dass Studierende in ihre Unterlagen schauen, googeln oder sich untereinander helfen. Fraglich ist dabei, ob diese Schummelei nicht sogar positiv gewertet werden kann – denn ist nicht im Berufsleben oder auch im ganz normalen Alltag die Kompetenz wichtig, schnell etwas nachzuschlagen oder sich Hilfe zu holen? Die aktuelle Diskussion zu Online-Prüfungen zeigt hier einen auch in der Zeit vor Corona kritischen Punkt auf. Denn kritisch zu hinterfragen ist, ob die ersten beiden Stufen primäre Lernziele sind oder überhaupt zu einem Bildungsverständnis von Hochschulen gehören sollten. Sollten nicht viel mehr kompetenzorientierte Prüfungen, die “höhere” Lernziele ins Auge fassen, in allen Semestern die Norm sein? Klar ist, es ist anspruchsvoller und komplexer in einer Prüfung abzubilden, ob jemand etwas anwenden kann, als das reine Wissen mit Multiple-Choice-Fragen abzufragen. Hierbei sind auf Dauer auch innovative Lösungen gefragt, die ggf. noch weiterentwickelt werden müssen. Aller Anfang ist dabei schwer und man begibt sich bei den ersten Schritten auf (teilweise sogar juristisches) Glatteis. Dennoch gilt es, Mut zu kreativen Formaten zu entwickeln. Diese können dann im ersten Schritt zum Beispiel bei nicht-benoteten Prüfungen getestet werden.

Die Debatte um Online-Prüfungen in Zeiten von Corona macht deutlich, dass die Eins-zu-eins Übertragung von analogen Prüfungsformaten ins Digitale weder als Notlösung noch als zukünftige Dauerlösung richtig funktioniert. Vielmehr sollte die aktuelle Situation dazu genutzt werden, sich grundsätzlich mit dem Zweck von Prüfungen und den passenden Prüfungsformen auseinanderzusetzen, um nach Corona neue Wege zu gehen. Gebot der Stunde sollte es jetzt aber vor allem sein, flexibel und pragmatisch den Studierenden zu ermöglichen, ihre Kurse und Module durch Prüfungen abzuschließen, aber dabei nicht den “Zweck” der Prüfung aus dem Blick zu verlieren. Denn nicht die rechtssichere Online-Klausur sollte das Maß aller Dinge sein, sondern Lehr- und Prüfungsformate, die auf die Kompetenzentwicklung der Studierenden abzielen – zur Vorbereitung auf die Welt von morgen.

 

Die Diskussion geht weiter: Wie verändert die Corona-Pandemie unsere Vorstellungen von Lernen, Lehren und Prüfen? Vom 6-8. Oktober dreht sich beim University:Future Festival alles um das “Neue Normal” im Hochschulsystem.

 

Literatur

Bloom, B. S., Engelhart, M. D., Furst, E. J., Hill, W. H. & Krathwohl, D. R. (Hrsg.). (1956). Taxonomy of Educational Objectives. The Classification of Educational Goals, Handbook I: Cognitive Domain. New York: David McKay Company, Inc.

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